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Arbeitstier: Am Brett mit Kamsky

“Chess Gamer Vol.1” ist ein Portrait des jungen Kamsky in 22 kommentierten Partien und ein großes Stück gelebte Schachgeschichte der Neunziger Jahre. Wer sich für die Schachgeschichte jener Zeit oder für Topclass Grinding Chess interessiert, kommt an dieser kommentierten Partiensammlung nicht vorbei.

Persönlichkeiten werden nicht durch schöne Reden geformt, sondern durch Arbeit und eigene Leistung.
– Albert Einstein

Kamsky hat auf Augenhöhe mit Anand, Kramnik,
Gelfand und Iwantschuck gespielt. Das Buch weckt Erwartungen, weil Kamsky trotz der ausführlichen Berichterstattung bis zu seinem frühen Rücktritt im Jahr 1996 mit 22 Jahren nicht nur schachlich immer ein Enigma geblieben ist. Es wurde viel über ihn berichtet, von ihm selbst aber war wenig zu vernehmen.

Kommt man auf Kamsky zu sprechen, stößt man unweigerlich auf unausweichliche Narrative:

  • Da ist das Image des jungen sibirisch/tatarischen Nerds mit dicker 70er Sovjet-Retrobrille, der mit seinem volatilen bis gewalttätigen Helikoptervater in die USA geflüchtet war, um bessere Bedingungen für seine Schachkarriere zu finden.
  • Das New York Times Magazine (Fred Waitzkin: A Fathers Pawn, 1990) beschrieb dann, warum diese Migrationsgeschichte vielleicht doch nicht ganz so erfolgreich verlief. Der Artikel (vom Vater des einstigen amerikanischen jugendlichen Schachtalents Joshua Waitzkin) wird sicher nicht dazu beigetragen haben, den Kamskys weitere Türen zu öffnen.
  • Wenn ein Schachspieler trotz vorhandenen Talents und seines artikulierten Anspruches nicht Weltmeister wird.

So gibt es eine Reihe von kognitiven Verzerrungen, die dafür sorgen, das seine Arbeit und seine Geschichte trotz ihrer Qualität nicht so wahrgenommen werden, wie die der Sieger (Survivor Bias).

“… He has no potential to be World Champion. There are many strong grandmasters, but to be World Champion you need that last component. I don’t think Kamsky has it.”

– G. Kasparov (Authority Bias)

Nebenbei bemerkt: Kamskys Score gegen Kasparov war auch echt unterirdisch. Wie kann man denn bitte mit Tb1 in der Mar del Plata Variante der Königsindischen Verteidigung einfach ein Tempo aus dem Fenster werfen (1992 gegen Kasparov)?

Und dann ist der Typ mit 22 Jahren einfach zurückgetreten. Caissa verzeiht so etwas nicht. Ich erinnere mich noch an ein Gespräch von Yasser Seirawan mit Anatoli Karpow nach Kamskys Comeback im Jahr 2005. Ihr Fazit: “He missed his best years.”

Retrospektiv betrachtet hat Kamsky nicht nur gegen seine Gegner und seinen Vater kämpfen müssen, sondern eben immer auch gegen diese Stigmatisierung.

Aus den biographischen und sehr offenen Notizen zu den einzelnen Partien wird deutlich, dass der junge Kamsky keinen “safe place”, keinen geschützten Platz für sich, zur Verfügung hatte, geschweige denn ein ideales Umfeld für die Vorbereitung auf einen WM-Kampf.

Abb.: Das Bild ist unter der dritten Partie in dem Buch. Kamsky gewann gegen Iwantschuk mit einem neuen Plan gegen die Bird-Verteidigung im Spanier (⇒ Partie bei chessgames.com anzeigen). Er schreib hier zum Ende der Partie: … “It was during this tournament that he became close friends with my father and me and I’m honored to still call him my friend so many, many years later. It was fitting that while i finished the first half of the event in clear first place, Vassily won the second half and caught me in the end, so we shared first and second places. The picture taken at the closing ceremony shows it all. I was sixteen years old.”

In diesem Buch ist Gata an der Reihe, Geschichten zu erzählen und “Awakening” spricht fettes Schach. Allein schon die vierte Partie:

Wenn du dir mit 17 gegen eine der zwei besten schachspielenden Entitäten auf diesem Planeten ausgerechnet die Verteidigung aussuchst, die dein Gegner bis zum Abwinken analysiert und mit positivem Score gegen Kasparow geübt hat, ist das schon mal mutig.

Wenn du dann eben diesen Anatoli Karpow von 1991 mit Schwarz in einem damenlosen Mittelspiel in der Grünfeldindischen Verteidigung, gegen das Läuferpaar, in einem von vielen prophylaktischen Elementen geprägten, langem Kampf überspielst und dann verdient gewinnst – dann ist das ein wenig so, als ob du Michael Jordan in Chicago den Ball wegnimmst und eins zu eins outscorst.

Partie bei chessgames.com anzeigen

Kamsky hat sich beim Schreiben des Buches an Bobby Fischers “My Most memorable 60 Games” orientiert. Gatas Buch findet in meinen Bücherschrank allerdings eher einen Platz neben “Keres ausgewählte Partien 1931-1958 – Lehrbuch des praktischen Schachs”.

Du lernst, warum es wichtig ist, die am schlechtesten platzierte Figur sofort zu verbessern. Keine Abkürzungen, keine Eröffnungsrezepte (Surprise: Kamsky hatte lange Zeit eine Abneigung gegen Eröffnungstheorie und analytische Vorbereitung mit dem Computer). Dafür aber ausführliche Analysen, Konzepte und Grundlagen für Entscheidungen am Brett. Das ist ein Heavyweight bei der Arbeit und die Arbeit findet bei Kamsky noch am Brett statt.

“Awakening” (und auch Vol. 2, “Return”) ist keine Gute-Nacht-Lektüre, sondern verlangt vom Leser, einem Top-Spieler zu folgen, der herausarbeitet, was er am Schach liebt und wichtig findet.

Das Buch wurde uns zur Verfügung gestellt durch den Schachversand Niggemann