Uns Uwe ist nicht mehr — ein Nachruf
Sie fühlten sich als die großen Wende-Verlierer, das Ehepaar Gerhard und Anita Baumgardt mit ihrem Sohn Uwe, benannt nach dem in den frühen 60-ern aufstrebenden “Uns-Uwe” Seeler, der wiederum auf der anderen Seite der Mauer kickte, aber das ging ja sowieso noch alles durcheinander in Uwes Geburtsjahr 1962. Nach Bulgarien sollte es zum Jahreswechsel 89/90 in das Außenministerium gehen, toller Aufstieg und toller Job, großartiges Anwesen mit vielen Privilegien, die Familie war am Ziel ihrer Träume, die Sachen waren gepackt.
Und dann kam der 9. November 1989, der für Gerhard Baumgardt schlimmste Tag seines Lebens, und alle Träume platzten! Gerhard Baumgardt konnte das nie verwinden und zog sich mit seiner Anita zurück und seine Aktivität bestand darin, seinen dann auch schon bald 30-jährigen Sohn Uwe zu Schachwettkämpfen zu begleiten. Und uns gefiel irgendwie, dass wir über Jahre immer einen treuen Fan dabei hatten, aber ich erinnere nicht mehr, ab wann er fern blieb.
Uwe, seit 1991 in unseren Reihen, ging 1995 in die Oberliga nach Potsdam, doch schon 1996 konnte ich ihn wieder zurückholen, indem ich ihm einen der begehrten Plätze für unseren Weltrekord im Turniersimultan im Mai 1997 versprach, entsprechende Fitness vorausgesetzt. Und diese Fitness erwarb er sich tatsächlich, nahm viel ab und trieb eifrig Sport und war dann sehr stolz bei diesem großen Event, damals mit Live-Übertragung im SFB, dabei zu sein.
23 Jahre hat er nun nach seinem Potsdam-Abstecher bei uns gespielt, davon 21 Jahre in der Landesliga, nie ganz vorne oder ganz hinten, am liebsten unauffällig, wie es seinem Naturell entsprach, in der Mitte, aber immer zuverlässig und er war meistens einer unserer Besten! Ihn beim Spielen zu beobachten kostete allerdings Nerven: Einerseits schien er ein anderes Spiel als wir zu spielen, wir verstanden oft nicht, was er auf dem Brett eigentlich machte, immer zwischen Kreisklasse und Weltklasse und immer so, als ob jemand die Figuren umgerührt hätte. Andererseits kam er oft in große Zeitnot und malte dann aber wie in Zeitlupe seine Notation aufs Papier, so dass uns der Atem stockte. Manchmal ging es gut und manchmal nicht, das war nie vorherzusagen. Und wenn er mal wieder eine undurchschaubare Bandwurm-Partie spielte und man beim Stand von 3,5:3,5 das Spiellokal verließ, dann musste man grundsätzlich mit allen 3 Ausgängen rechnen, egal wie die Partie stand.
Groß war die Freude auch bei ihm, als wir 2007/08 alle eine gute Saison erwischten und mit großem Vorsprung Berliner Meister wurden und ein Jahr in der Oberliga spielen konnten.
Aber sein großer Feind war seine Phlegma. Das hinderte ihn daran, abseits des Schachbrettes erfolgreich zu werden, aber auch am Schachbrett. Denn er war nur schwer zu überreden, mal einen Schachtermin außerhalb der BMM wahrzunehmen. Vereinsabende waren seine Sache auch nicht, das war ihm zu gesellig und wenn ihm etwas einmal missfiel, dann mied er es für immer. So beendete er aus einem nichtigen Anlass seine Blitzschach-Karriere, kam später auch nicht mehr zum Schnellschach und zum Havelcup, ließ sich als richtig guter Skatspieler auch nicht mehr zum Weihnachtsskat überreden und ward nie auf einer Versammlung gesehen. Neun Runden BMM, manchmal Pokal und das Saison-Abschlussessen, das war’s.
Wichtigster Begleiter dann viele Jahre lang das Premiere-Abo, das wohl am besten zu seinem phlegmatischen Lebensstil passte. Dabei war er Anfang der 90-er noch ein Unikum, ausgerüstet mit riesigem Handy an der Gürtelschnalle, das hätte ruhig während der Partie klingeln dürfen, weil er für einen technischen Notdienst bereit stehen musste.
Dann kamen aber für Uwe die schwierigen Zeiten und Situationen wie Arbeitslosigkeit, Trennung der Eltern, Tod des Vaters, Leben mit der Mutter. Und dann, als die Mutter krank zu Hause lag, sich ihre Beine immer stärker mit Wasser füllten, sie aber keinem Arzt zur Last fallen wollte, siegte wieder das Phlegma: Einfach nichts machen, bis das Herz es nicht mehr schaffte und das Leben ausgehaucht war und er seine Mutter zu Grabe tragen musste.
Doch im letzten Jahr dann immerhin die Erkenntnis, dass er abnehmen und mit dem Rauchen aufhören müsse. Intervalldiät 8/16 und Gewichtsreduktion klappten, aber der Arztbesuch wird trotz Beschwerden vermieden, nebulöser Ausstieg aus unserem Weihnachtsturnier nach 2 Runden, eindeutige Diabetes-Symptome ohne Behandlung, scheinbar ganz nach dem Vorbild seiner geliebten Mutter, einsamer Tod zu Hause nach kurzer schwerer Krankheit, game over.
Was bleibt, ist die Erinnerung an ein lausbubenhaftes Grinsen, wenn er mal wieder einen Gegner überspielt hatte und eine Datenbank mit vielen unglaublichen Partien!
Matthias Kribben, 1. Vorsitzender des SC Zitadelle Spandau 1977 e.V.