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Philipp Lerch

Richtig aufgefallen das erste Mal war mir der Junge beim Himmelfahrts-Schnellturnier des SK König Tegel am 13. Mai 2010. Ich leitete damals das Turnier und hatte genügend Zeit, neben dem Fotografieren noch einige Partien zu verfolgen, natürlich besonders die des zwölfjährigen Philipp Lerch. Der mischte mit einer DWZ von 1844 die erfahrenen und
rund 400 DWZ-Punkte stärkeren Erwachsenen auf und belegte am Ende den geteilten dritten Platz.

Warum war mir Philipp bis dahin relativ unbekannt? Wo ich doch als (damaliger) Wertungsreferent viele Spieler zumindest dem Namen nach kenne. Doch selbst im Nachwuchsbereich war seine Rolle bis dahin eher unbedeutend, wenn man von einigen Berliner Meistertiteln einmal absieht. Namen wie Galkin, Lagunow oder Sawlin beherrschten die Nachrichten. Das sollte sich in den nächsten Monaten ändern.

Vom 23. April bis 1. Mai spielte Philipp das Offene Qualifikationsturnier in Lichtenrade mit. Mit einer inzwischen deutlich verbesserten DWZ von 2033 gehörte er zu den Mitfavoriten. Für mich war er aber bereits der Top-Favorit! Dieser Rolle wurde er mehr als deutlich gerecht. Mit 8 aus 9 wurde er souverän Erster und darf ab nächstem Jahr in der Meisterklasse mitspielen. Ich traue ihm mehr zu als seinem Altersgenossen Leonid Sawlin, der in diesem Jahr die Meisterklasse mitspielte, aber wieder abstieg. Im Duell mit internationalen Titelträgern kennt Philipp keinen Respekt. So besiegte er bei der Berliner Schnellschachmeisterschaft am 16./17. April IM Ulf von Herman und hätte
beinahe dessen Meistertitel verhindert.
Sich selbst hievte er dadurch auf den vierten Platz – punktgleich mit von Herman!

In den Berliner Nachwuchskader D3 schaffte es Philipp erstmals im Jahr 2008.
Seine erste Berliner Meisterschaft (BJEM) lag da schon zwei Jahre zurück. Im zehnköpfigen Finalfeld der U10 belegte er 2006 Platz 7. Wladislaw Galkin gewann damals vor Aron Moritz. Galkin bezwang er dabei in der ersten Runde.
Ein Jahr später hatte Philipp schon 500 DWZ-Punkte mehr auf seinem Konto. In der U10 war er mit DWZ 1341 Favorit. Er gewann mit 7 aus 9. Bei der anschließenden Deutschen U10-Meisterschaft blieb er innerhalb der Erwartungen der Trainer, allerdings einen halben Punkt hinter der DWZ-Erwartung zurück – Platz 13.

2008, im Jahr seiner Aufnahme in den Landeskader, belegte er bei der Berliner U12-Meisterschaft den dritten Platz – mit allerdings 2½ Punkten Rückstand auf den Sieger Aron Moritz und Wladislaw Galkin. Von Letzterem trennte er sich diesmal Remis, Aron unterlag er. Zwei weitere Niederlagen in den beiden Schlußrunden kosteten ihm eine bessere Plazierung. Für die Deutsche Jugend-Meisterschaft wurde er nicht berücksichtigt.

Das folgende Jahr lief wieder etwas besser. In der U12 spielte er in Berlin alles in Grund und Boden, gab nur zwei Unentschieden ab, eins davon gegen die später drittplazierte Elina Lagunow.
Die Deutsche Meisterschaft U12 lief normal. Platz 10 mit 7½ aus 11 war okay, aber zu wenig um außerhalb der Hauptstadt für Aufmerksamkeit zu sorgen.

Dem Jahr mit DJEM folgte wieder eins ohne DJEM. Aron Moritz gewann klar die Berliner Meisterschaft U14, Philipp wurde Zweiter. Zu wenig für die Nominierung für Oberhof. Dafür marschierte er in der Saison 2010/11 schnurstracks ins deutsche Finale. In Vor- und Endrunde der Berliner U14 siegte Philipp mit jeweils 100 Prozent! “Thüringen, ich komme” sagte er sich wahrscheinlich.

In den weltweit bekannten Wintersportort und begehrtem Ausflugsziel nicht nur in DDR machte sich am 11. Juni eine vielköpfige Berliner Delegation auf. Rund 40 Kinder und Jugendliche und 29 Betreuer und Erwachsene trafen sich am frühen Vormittag am Bahnhof Südkreuz. Nach knapp fünf Stunden Zugfahrt war das 1.500-Seelenstädtchen, daß nach Erfurt und Weimar der meistbesuchte Ort Thüringens ist, erreicht.

Philipp wurde von seinem Vater und GM Robert Rabiega begleitet und in Oberhof betreut. Rabiega kümmerte sich natürlich nicht nur um Philipp, sondern sah auch bei Valeria Velina nach dem Rechten. Er betreut sie seit mehreren Jahren.
Der Zeitpunkt ist passend an dieser Stelle eine Anekdote einzufügen, die mir zu Ohren kam. Robert wollte beim traditionellen Mannschaftsblitz mit Valeria und einem dritten Spieler mitmachen. Valeria hatte aber keine Lust. Als Robert andeutete, der dritte Mann wäre Jan Gustafsson, entschied sich Valeria fürs Blitzen. Aus der Dreierkombination wurde dann aber doch nichts, weil der Hamburger Großmeister bereits einem anderen Team eine Zusage gegeben hatte.

Robert wird Philipp auch nach der Deutschen Meisterschaft weitertrainieren – sozusagen zusätzlich. Bisher war dafür in seinem Verein König Tegel, IM Drazen Muse zuständig. Darüberhinaus wurde er von FM Boris Gruzman in die Geheimnisse des Schachspiels eingeweiht.
In Tegel spielt Philipp übrigens seit jenem Schnellturnier im Mai 2010. Vorher war er bei TuS Makkabi aktiv. Sein Vater meldete ihn in Tegel persönlich an und ließ sich dabei von seinem Sohn übersetzen. Philipps Eltern stammen aus Kasachstan und sind vor etwa 15 Jahren nach Deutschland ausgewandert. Philipp wurde hier geboren und kam mit Schach im Alter von 6 bis 7 Jahren in Berührung. “Ich habe auch sofort mein erstes Turnier gespielt. Mein Vater hatte ein Buch von meinem Opa geschenkt bekommen und wir haben es angefangen zu studieren. Es wurde von GM Juri Awerbach geschrieben, soweit ich mich noch erinnern kann.” meint Philipp zu seinen ersten Gehversuchen im Schach.

Am Abreisetag aus Oberhof vermerkte Philipp auf seinem Facebook-Profil augenzwinkernd, daß er jetzt “seine grausamen Partien” analysiert. Auf meine Frage nach seiner besten Partie erwiderte er lachend “Ich fand alle Partien gut.” Die Aussage betraf dann wohl auch seine Verlustpartie in der vierten Runde gegen Thorben Koop: “Es war ein Unentschieden drin. Ich stand lange Zeit besser, doch dann kam ich in Zeitnot, verspielte die gute Stellung und übersah dabei den Remisweg?.” Danach hakte Philipp den ersten Platz ab: “Ich habe noch mit Platz 5 oder 4 gerechnet, aber nicht mit dem 1. Platz.
?Eine Plazierung unter den ersten Fünf war ohnehin sein Ziel. Mit einer DWZ von 2089 war Philipp vor der DJEM die Nummer 13 in seiner Altersklasse in Deutschland. In Oberhof nahm er aber Setzlistenplatz 7 ein. Bundesnachwuchstrainer Bernd Vökler hatte die Besten der Altersklasse (u.a. Matthias Blühbaum, Rasmus Svane, Alexander Donchenko, Dennis Wagner) in der U16 und der U18 spielen lassen. Philipp: “Das habe ich gewußt, bevor die Anmeldeliste online war.

Vökler wird zukünftig auch ein Auge nach Berlin werfen. In einem Interview mit dem neuen DSB-Öffentlichkeitsreferenten Raymund Stolze sagte er, daß er “den neuen Meister Philipp Lerch aus Berlin bisher noch nicht auf seinem ‘Bildschirm’ hatte.
Wann der Bundesnachwuchstrainer ihn zum ersten Mal im Fokus hatte, weiß Philipp nicht mehr: “Ich glaube, als ich gegen Jonas Lampert gespielt habe.” Das war dann schon in Runde 3, wobei man anmerken muß, daß Lampert zum DSB-Kader zählt und zwangsläufig von Vökler beobachtet wird.

Nach dem Deutschen Meistertitel wird sich Vökler nun auch mit Philipp beschäftigen (müssen). Im DC-Kader des Deutschen Schachbundes, der einmal jährlich am Jahresende aufgestellt wird, sind aus Berlin Aron Moritz, Leonid Sawlin und Raphael Lagunow. Wenn Philipps Entwicklung so weitergeht, wird er sich 2012 auch darin wiederfinden. Neben der Teilnahme an Lehrgängen des Bundesnachwuchstrainers, würden auch die Chancen für die Teilnahme an Jugend-Europa- und Weltmeisterschaften wachsen. Meine Frage, ob er bereits in diesem Jahr mit einer Nominierung für EM, WM oder EU-Meisterschaft rechnet, läßt Philipp unbeantwortet: “Erstens bin ich (noch) nicht im DC-Kader, und zweitens verstehe ich gar nicht ?wie die Nominierung abläuft. Ich gebe eine Antwort wenn ich es herausfinde” meint er lachend.?

In reichlich einer Woche beginnen in Berlin die Sommerferien. Genug Zeit zum Ausspannen. Die Woche in Oberhof war anstrengend. “Morgens um 6 Uhr aufstehen, frühstücken, Partievorbereitung und 30 Minuten spazieren gehen. Nach der Partie Mittagessen und dann relaxen – Basketball oder Tischtennis. Nach dem Abendbrot ab 21 bis 22 Uhr Nachtruhe.
Aber auch in der Schule ist es anstrengend. Philipp erwartet eher ein “mittelmäßiges Zeugnis” und schiebt gleich eine plausible Erklärung nach: “… dank meiner lauten Klasse, bei der man sich nicht konzentrieren an.” Abschalten und sich auf ein Thema fokussieren, fällt ihm also schwer – so wie den meisten Schachspielern. Obwohl man ja gerade das mit Schach trainieren kann.

Seine nächsten Turniere wird Philipp beim Finale des Berliner Schnellschach-Grand-Prix und beim Lichtenberger Sommer spielen. Auch in Pardubice wollte er mitmachen. Daraus wird aber nichts. Die Inhaber der Berliner Schachschule – die ihn wohl betreuen wollten – erwarten (eigenen) Nachwuchs.

Fotos: GW Baumschulenweg (BJEM, Jung gegen Alt 2009), Frank Hoppe