Der Lasker Grand-Prix vom 30.1.2015
Am Nachmittag des 30.1. machte ich eine längere Radtour mit meinem Sohn David, bei keineswegs angenehmen äußeren Bedingungen. Da wir uns aber sehr angeregt unterhielten – ich mache das jetzt regelmäßig mit ihm und wir sprechen über alle möglichen Themen, nach freier Wahl, aber machen dabei einen Rundkurs durch alle denkbaren Wissensgebiete; gestern kamen wir auf Bodenschätze, Erdöl, Diamanten, die OPEC, Scheichtümer, Demokratien, Plattenspieler, wegen der Saphire, Politik(er) na und was nicht so alles –, verging die Zeit aber wie im Fluge und trotz am Ende eiskalter Füße, Ohren und Hände hatten wir eine Menge Spaß – und zugleich ein paar nette Begegnungen. So trafen wir zunächst Jan-Daniel und Sohn Jirawat Wierzbicki, welche ich spontan zum abendlichen Schnellschachturnier bei Lasker lud, sowie später Ismajl Rama, mit identischem Vorschlag.
Nur ahnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass, sofern die drei den Einladungen gefolgt wären, der Schachclub tatsächlich die Kapazitätsgrenzen überschritten hätte. Denn: es wurde ein denkwürdiger Abend im altehrwürdigen Schachclub Lasker, welcher zwar sehr angenehme, aber doch begrenzte Spielbedingungen zu bieten hat, seit dem Umzug zurück in Rathaus(Steglitz)Nähe, wo ich ihm einst, am 5. März 1973, beitrat, als er damals im Café Schallehn in der Albrechtstraße 127 beheimatet war. Warum ich diese beiden Eckdaten so genau erinnere? Nicht allein ein mir unbestätigt zugeschriebenes gutes Gedächtnis (welches ich, aufgrund vor allem in letzter Zeit, zahlreicher unliebsamer eigener Erfahrungen, schlichtweg verleugne) zeichnen dafür verantwortlich, sondern vielmehr hat Gevatter Zufall, der Grimmelschnitter, da seine Hände im Spiel. Denn: a) stellte der damalige Kassierer, Herr Kessler, mir meinen Mitgliedsausweis zwar am 5. März aus, jedoch trug er als Eintrittsdatum den 15. März ein. Seine durchaus sympathische Begründung: so wäre der März für mich beitragsfrei.
Die 127 hat eine sehr profane Bewandtnis, ist doch mein Geburtstag am 27.1. gelegen und dieser Umstand verschaffte mir von Beginn weg eine höhere Verbundenheit mit diesem Verein: das kann doch kein Zufall sein? Gibt es nicht doch so etwas wie Schicksal? Das geht denn wohl doch etwas zu weit? Jedoch wurde ich gerade unlängst mal wieder befragt, wo sich denn der Schachclub Lasker, nach längerer, bewegter Geschichte, nun befände? Dies veranlasste mich, noch einmal zu rekapitulieren (und dies verbal meinem Gegenüber zeitgleich zu vermitteln), und ich kam auf den Umzug in die AWO, dann zum Gemeindepark, später in den Bahnhof Lichterfelde West, und letztlich nun beinahe zurück an die alte Stätte, wo man sich möglicherweise nun wieder für längere Zeit heimisch fühlen darf?
Falls noch ein paar mehr Randdetails (ebenso wenig) interessieren sollten: mein anderer Sohn, Ben-Luca, hat ja ebenfalls eine ganz Erfolg versprechende Karriere gestartet, ebenfalls in diesem Schachclub. Klar werde ich in letzter Zeit regelmäßig auf ihn angesprochen, vor allem, wenn ich OHNE ihn zu einem Turnier auftauche. „Wo ist denn dein Sohn? Der spielt ja stark in letzter Zeit.“ Gestern hatte sein Fernbleiben nun diesen einfachen Grund: seinen 17. Geburtstag beging er im Kreise seiner Freunde und Verwandten. So sieht man: der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Gerade einmal drei Tage weit weg… Allerdings wäre es schon höchst kurios, wenn der Schachclub nun, quasi anlässlich dessen, in die Albrechtstraße 130 umgezogen wäre?!
Nach meiner Ankunft im Schachclub so gegen 19:15 füllte sich dieser zusehends, wobei bereits mit Andreas Modler, aus Konstanz angereist (allerdings nicht alleindeswegen, wie man annehmen muss) und Dr. Maxim Piz, sowie weiterhin Herrn Draheim, vom Marienfelder Schachclub nun zu diesem gewechselt, wie ich von ihm persönlich vernahm, und den „üblichen Verdächtigen“ Lasker Urgesteinen – nennen wir zuvorderst Roman Matzkowiak – eine Reihe starker Spieler anwesend waren. Dies wurde jedoch im Verlaufe der nächsten Minuten noch um Einiges überboten. Nicht nur kam Großmeister Sergej Kalinitschew herein, sondern zugleich brachte er seine russischen Begleiter Vitali Major und Dimitri Kostyuchenko mit. Nun, warum ich dies so speziell erwähne? Hatte nicht exakt dieses Dreigestirn der gesamten Lasker-Belegschaft, einschließlich meiner Wenigkeit, vor exakt einem Jahr eine Nase gedreht, indem sie die ersten drei Plätze belegten, wobei ich direkt nur Vitalij und Dimitrij begegnete – nicht Sergej – jedoch gegen beide eine 0 quittieren musste, und somit so ziemlich einmalig Grand-Prix-Punkte-frei durchs Ziel ging, mit 4.5/7, während die drei auf dem Siegerfoto strahlend in die Kamera blickten (ist das auf der Homepage der SG noch zu finden?).
Weiterhin darf man jedoch durchaus erwähnen, dass mich Vitalij vor Kurzem erneut bezwingen konnte – beim Präsident Schnellturnier, in der entscheidenden Schlussrundenpartie, wonach ich auf 3 einging und er auf 2 – und Dimitrij am Mittwoch das Schnellschachturnier bei den Schachfreunden mit 5 aus 5 gewinnen konnte, vor Lars Thiede, Udo Hoffmann und mir, wobei er ausgerechnet die 1 und die 2 der Setzliste (Thiede, Paulsen) geschickt umschiffte. Dennoch: die 5 aus 5 sind schon eine gewaltige Referenz, um seine schachliche Veranlagung, speziell im Schnellschach, herauszustellen.
Da sich zu den „üblichen Verdächtigen“ kurz vor Meldeschluss auch noch Adis Artukovic gesellte – und man darf schon sagen: von den aktiven Laskeraner mit Sicherheit der Stallhengst (ok, zusammen mit Maxim Piz), was die Turnierchancen anging — konnte man nun wirklich von einem gigantischen Teilnehmerfeld sprechen, was Zahl und Qualität der Teilnehmer anging. Auch der Nachwuchs hatte sich reichlich gemeldet, sowie ein paar wohl noch nie gesehene Gesichter. Da mussten direkt noch ein paar Extratische aufgestellt werden.
Wie ich spät nachts erfuhr hatte sich Ismajl Rama für die Partie VfL Wolfsburg gegen Bayern München, zum Rückrundenauftakt der Fußball Bundesliga, entschieden, während Jirawat zwar schüchtern zu seinem Vater aufblickte, und so seinen Spielwunsch zur Schau stellte, hatte dieser bereits, aufgrund anderweitiger Verpflichtungen, recht zuverlässig abgewinkt: „Nein, heute wird das wohl nichts. Wir müssen noch…“
Dies, so darf man nun sagen, war ein beinahe schon glücklicher Umstand. Wie der Schachclub sonst mit dem Ansturm fertig geworden wäre, hätte man sehen müssen. So genügte noch immer der vordere Spielraum, selbst wenn man schon etwas beengt saß. Macht einem wahren Schachenthusiasten doch nichts aus? So lange die Partie läuft, ist man in der Regel doch eh ausschließlich auf die Geschehnisse AUF dem Brett fokussiert? Was schert einen da der geringere Abstand des Sitznachbarn?
Als in Runde 1 die Paarungen gelost wurden – nach dem Lasker typischen, einzigartigen Muster, mit rein zufälligen Paarungen, und NICHT nach Setzrangliste, kam es direkt zur Begegnung Modler – Artukovic, also zweier Favoriten auf den Turniersieg. Adis stöhnte leicht hörbar, wobei er dies wohl gleich wieder zu unterdrücken versuchte. Attitüde: „Ich kann eh jeden schlagen, egal in welcher Runde.“
Nun brachte dies nicht nur eine (unangenehme) Erinnerung zurück, sondern veranlasste mich direkt, mit Sergej – der am Nachbarbrett Platz nahm (eine Besonderheit bei Lasker bleibt: man sucht sich ein freies Brett mit seinem Gegner; nur ein einziges Mal versuchte ich organisatorisch mitzuwirken. Die Folge: es wurde die Brettnummern aus dem Schränkchen herausgeholt und wunderschön durchnummeriert die Bretter aufgestellt; ich finde: ein Zugewinn an Qualität) – zu philosophieren über dieses Lasker-typische Lossystem:
Erinnerung die: Adis hatte vor einiger Zeit einmal in der ersten Runde Schwarz gegen mich. Auch damals schon war, kaum merklich, ein leichtes Lamentieren zu vernehmen. Er gewann die Partie, gewann weiter bis zur vorletzten Runde, ich gab noch ein Remis ab, gegen Dr. Trebbin, und seine beiden Schlussremisen gegen etwas weniger namhafte Gegner genügten, um ihm Platz 1 mit 6 aus 7 vor mir mit 5.5 aus 7 zu sichern.
Das leichte Stöhnen überging ich damals, jedoch rein innerlich schmerzte der Verlust natürlich ein wenig, aber noch mehr deshalb, weil man eben gegen einen lamentierenden Gegner antreten musste. Der Tenor: warum muss ich ausgerechnet in Runde 1 gegen den antreten, wo ich vermutlich gleich eine 0 kassiere? Dies setzt den Favoriten ein wenig mehr unter Druck und von wegen „die hab ich schon gewonnen“ ist ohnehin niemals, und noch weniger ratsam, gerade, wenn der Gegner leicht resignativ ist, womit nämlich die eigene Konzentration herabgesetzt wird.
Folgerung, übergehend in Philosophie: der Außenseiter hat doch BESSERE Chancen gegen einen Favoriten in einer frühen (am besten: der ersten) Runde? Der Favorit muss doch fürchten um seine Form, weiß noch nicht genau, wo er steht? Dem Außenseiter kann meist nur der „lucky punch“ gelingen, jedoch wahrscheinlicher dies zu Beginn des Turniers.
Wobei immerhin der Bogen zum Fußball geschlagen wäre und die Erwähnung der Ismajlschen Abendbeschäftigung einen weitläufigeren Sinn erhält: Wolfsburg hatte zu Saisonauftakt bereits, beim 1:2 in München, mit die beste Chance zu einem Überraschungscoup beim Seriensieger, speziell als der gerade tödlich verunglückte (das Spiel stand unter dem Zeichen dieser Tragödie) Wolfsburger Junior Malanda in der 79. einen Ball in etwa von der Torlinie aus für die Bayern über das Tor „klärte“, anstatt das 2:2 zu erzielen – mit offenem Ausgang.
Gestern Abend, wie ich bei Heimkehr ziemlich bald erfuhr, indem ich zumindest die Zusammenfassung des Spiels schaute, bewahrheitete sich mein Sergej gegenüber geäußerte These (zu diesem Zeitpunkt das Spiel ja noch nicht einmal angepfiffen) also auf beeindruckende Art. Wolfsburg fegte die Bayern mit 4:1 vom Feld.
Adis allerdings war ein ähnliches Schicksal nicht vergönnt. Andreas wackelte zwar ein ganz klein wenig in der Endphase, aber Stellungsüberlegenheit und Zeitvorteil waren einfach zu groß: Matt, unabwendbar, vor mittlerweile ALLEN Teilnehmern als Zuschauer, 1:0.
Sergej wackelte das erste Mal in Runde 3 (so weit ich weiß?) als er einen in Hochform agierenden Roman Matzkowiak die Finger in den Mund steckte (wie es einst Steinitz ausdrückte: „Ich bin ein alter Mann, aber wenn man mir die Finger in den Mund steckt, dann beiße ich.“). Roman gewann, Sergej nahm danach seine typische Haltung ein: „Ab jetzt gewinne ich ALLES.“ Hoch konzentriert, nicht ansprechbar ist er dann.
Mich persönlich ereilte das Schicksal der Favoriten in Runde 4: bis dahin meist einfache Siege (ein kleines Eröffnungsexperiment gegen Wolfram Steiner veranlasste ihn, eine Figur zu opfern; Kompensation? Gegen Null, wegen eines Übersehens im Zuges des aufkeimenden Optimismus´(rettet den Genitiv!!). Robert Draheim, der mir direkt das Du anbot nach seinem Sieg in unserem ersten Aufeinandertreffen, nutzte seine Gegenchancen gegen Ende in einer eigentlich von mir ganz ordentlich geführten Partie. Ich hatte einen Bauern erobert, aber dafür einen Aktivierungszug zugelassen. Noch war das Matt abzuwenden – aber nicht so. 0:1.
Andreas Modler zog also einsam seine Kreise, da auch Vitalij und Dimitrij früh Punkte abgegeben hatten (war es nicht auch Dimitrij, dessen Hoffnungen ebenfalls von Roman in Runde 1 gedämpft wurden?). Er hatte zur sechsten Runde einen ganzen Punkt Vorsprung. Verfolger aber: Sergej, Adis und mindestens ich noch, mit je einer Verlustpartie (und sonst Siegen). Das kurze Gespräch mit dem durchaus in überzeugender Form agierenden Andreas Modler vor Runde 6 ergab: alles gewonnen hat er bis dahin, aber weder Sergej noch mich (die 1 und 2) bisher zum Gegner gehabt.
Das sollte sich, beinahe schon während dieses Gesprächs, ändern, nämlich als Reinhard Grüner die Paarungen der sechsten Runde verlas: „Paulsen – Modler…“ Immerhin: ich hatte Weiß.
Nun darf ich auch hierzu die kleine Vorgeschichte erzählen: wir kannten uns bestenfalls sehr oberflächlich, als wir einst bei Gillette im Firmenschach gegeneinander spielen mussten, und zwar bis dahin zum ersten (und auch einzigen; aber dazu gleich mehr) Mal. Wir erreichten ein Endspiel, mit Vorteilen für mich. Mag sein: es ist Remis, die Vorteile klein oder akademisch. Aber: mich ritt der Teufel und ich trennte mich von meinem Läufer (meiner einzigen Leichtfigur; wir waren also im Läuferendspiel). Ich hielt meine Chancen mit den zwei Bauern gar Gewinn bringend, in gänzlicher Verblendung. Denn: sein König und Läufer kamen locker zur rechten Zeit und hielten das Bauernpaar. Logische Folge: 0:1.
Nun bin ich nach Niederlagen, ähnlich wie Sergej, oft gar nicht so gut zu leiden. Das Verhältnis blieb also neutral bis angespannt. Es war ja weder ein böser Blick noch ein böses Wort gefallen. Dennoch: meine Erinnerungen waren natürlich unerfreulicher Art.
Als er nun, vor ein paar Jahren, bei einem Lasker Grand-Prix auftauchte, kam es zu folgender Kuriosität: als Schachspieler hatte ich eh allen Anlass, ihn zu respektieren. Wir tauschten auch ein paar Worte aus, erinnerten uns aber gemeinsam an diese Partie. Ebenfalls kam zu Gespräch: sein Engagement für Lasker (später spielte er nur eine einzige Partie in dieser Saison, gewann die aber überzeugend; ich meine, gegen Mike Pflantz). So waren war also Mannschaftskollegen. In der ersten Runde die Paarung: Paulsen – Modler.
Allerdings kam die Partie nicht zur Austragung: es gab eine Verwirrung in der Auslosung, Reinhard Grüner oder Christoph Weiten oder beide kamen nicht klar, es wurde durchgehend gesprochen, ich meinte, das Turnier solle erst beginnen, wenn das alles geklärt wäre und klar wäre, ob alles so passt und überhaupt das ständige Geklapper und Geplapper, von Computer und dessen Bändigern, aufhöre. Dazu kam es nicht. Andreas wartete auf den ersten Zug. Ich führte ihn nicht aus. Ich schlug ein Remis vor, er lehnte ab, mit den Worten: „Nein, ich möchte eigentlich gerne Schach spielen, deshalb bin ich gekommen.“ Ich verbrachte die halbe Stunde bei einer in der Nähe gelegenen Bekanntschaft, welche ich ohnehin gerne besuchen wollte, mit dem Fahrrad in zwei Minuten erreichbar, und kehrte zu Runde 2 zurück. Turnierausgang weiß ich nicht mehr, aber ich habe wohl den Rest gewonnen.
So stand also auch unsere zweite Begegnung unter einem unglücklichen Stern. Nun stand die dritte an, und diese würde nun ausgespielt werden, keine Frage.
Ich wagte ein Eröffnungsexperiment, wenn man so möchte, indem ich wusste, dass die von mir gewählte Variante gravierende Schattenseiten hätte. Während ich die Züge ausführte, dämmerte mir, dass Andreas – wie er nämlich nach der Partie gegen Mike Pflantz bewies durchaus theoretisch bewandert – dies sicher kennen würde und ich eine schlechte Wahl getroffen hätte. Dies bestätigte sich. Noch immer hielt ich meine Kreativität für ausreichend, dem etwas entgegen zu setzen, aber ich merkte, dass das Abspiel forcierten Charakter hatte: keine Abweichung möglich.
Als der letzte Zug (oder: die letzten beiden Züge) der Variante quasi einzig logisch hätten folgen müssen – verfiel er plötzlich in tiefes Grübeln. Nach sicher um die 2 Minuten Geistesarbeit – machte er einen Fehler. Ab diesem Moment wurde es eine ziemliche Einbahnstraße. Nicht nur auf der Uhr wuchs mein Vorteil, auch auf dem Brett fanden sich bald Läuferpaar UND Mehrbauer ein, bei weiterhin aktivem Figurenspiel. Das musste doch nun ausreichen?
Jedoch geschah auch hier das typische, von mir glücklicherweise in letzter Zeit aber meist vermiedene „Unglück“: er schaltete den Turbo ein, traf dabei mit seinen Zügen, während ich weder von Bedenkzeitvorteil noch vom Verstand Gebrauch machte – und zog auf weit niedrigerem Niveau (auch das typisch) mit. Der Mehrbauer war weg, die Aktivität ging flöten, die Partie nun ausgeglichen (immerhin: nicht verloren). Ich war aber entschlossen und auch cool genug, noch einmal die Kurve zu bekommen: als er bei 11 Sekunden angelangt war (ich bei 54), jeder drei Bauern und zwei Leichtfiguren hatte (ich noch immer das Läuferpaar) ahnte ich, was sein nächster Zug sein würde. Auf diesen war ich vorbereitet: der Springer war weg, er gab auf. 1:0.
Leicht entschuldigen musste ich mich dennoch, hatte ich doch eine so weit ordentliche Partie dennoch unnötig verdorben und nur noch den Zeitvorteil zum Sieg genutzt (anstatt den Stellungsvorteil zu verwerten). Dennoch: wir waren nun alle punktgleich. Sergej, Adis, Andreas, ich.
Paarungen der Schlussrunde: Kalinitschew gegen Modler, Artukovic gegen Paulsen, für das ultimative Drama.
Tatsächlich hatte ich gegen Adis schon früh klare Vorteile. Er beginnt immer erst dann, richtig gut zu spielen. So hatte ich Mühe, den klaren Vorteil festzuhalten. Allerdings blieb mir auch in dieser Partie stets einer auf der Uhr. Allmählich kamen seine Figuren wirklich bedrohlich nahe, während ich meine nicht recht verbessern konnte. Mehrbauer war da, aber Verwertung in weiter Ferne. Nun wähnte er sich bereits auf dem sicheren Weg, in die Siegerstraße einzubiegen. So geht es häufig, dass die eingeschlagene Richtung beibehalten wird. Großer Vorteil weg → Vorteil → Vorteil weg → Ausgleich → Ausgleich weg → Nachteil → Nachteil vergrößert → Partieverlust.
Urplötzlich aber hatte ich die Gegenaktivität, natürlich, so darf ich mir anrechnen, ein wenig geplant. Der Mehrbauer hätte womöglich dran glauben müssen, aber das Remis wäre mir wohl sicher, mit einem Dauerschach.
Ich konnte aber eine Mattdrohung aufstellen, welche nicht einfach abzuwehren war. Möglich, dass bei ihm alles ok war, aber er fand das, bei knapper werdender Zeit nicht mehr. Es war Matt, nur noch zwei Züge entfernt, als er, anstelle der Aufgabe, die Figuren in meine Richtung über das Brett schubste. Es fiel ihm zwar sofort auf, dass das irgendwie unschicklich war, aber die mir entgegen gestreckte Hand schlug ich aus.
Nun haben wir schon reichlich Diskussionen über Fairplay und Brettverhalten und alles Mögliche im Zusammenhang stehende gesprochen. Wir fahren ja auch häufig gemeinsam zu Turnieren. Diese Art und Weise der „Partieaufgabe“ meinte er, längst abgelegt zu haben. Nach dieser unschönen Geste, welche ja zugleich bedeutet : „du Glückspilz, deine Stellung war verloren“, und dies durchaus von den Anwesenden gehört und erahnt wird (bei denen also ein FALSCHER Eindruck entsteht), wollte er mir die Hand reichen. Ich nahm sie nicht an. Nun mag auch dies als unfaire Geste „durchgehen“ aber immerhin war es ja eine Reaktion.
Ich meine dies: Adis persönlich gewinnt sehr gerne nach diesem Muster. Schlecht stehen, gut stehen, alles weniger relevant. Irgendwie, irgendwo, irgendwann eine kleine Drohung aufstellen, das ist viel wichtiger. Das nutzt sehr wohl die gleichen schachlichen Elemente wie sie andere zum Einsatz bringen. Vor allem in dem Sinne: sind doch legale Züge? Was ist schon ein Trick oder eine kleine Falle? Stellungsmotiv genutzt – Punkt eingefahren. Um was ginge es sonst, außer Ergebnisse erzielen? Falls ein derartiges Motiv einer eingehenden Analyse nicht stand hielte: wenn der Gegner den Fehler macht, was könne er denn dafür? Am Ende zählen die Punkte. Einem Gegner gesteht er dieses Mittel jedoch nicht zu, wie es scheint. Falls dieser nämlich mit einem allergleiche Motiv eine (ab und an gar schlechte) Stellung zum Sieg führt, hört man nicht nur sein „unfassbar“, verbunden mit dem anhaltenden Kopfschütteln, sondern muss sich als Gegner auch diesem Wortschwall aussetzen: „Das war doch total verloren für dich. Das war ein Witz, diese Stellung.“ Und am nächsten Tag vernimmt man noch, sofern für ihn vorteilhaft, die Computerbewertung : „Du standest bei -2.84.“
Fürs gut Stehen jedoch sollte man, laut Reinhard Müller, lieber zum Kunstturnen gehen, wo man DAFÜR die Punkte erhält. Beim Schach ist es, zugleich nach Adis´ (geh nie tief ins Wasser, weil da tief ist …) eigener Auffassung, doch der Partieausgang als einziges Kriterium zulässig? Falls es anders wäre (Kunstturnen), so denke ich kaum, dass die Turnierergebnisse sich zu seinen Gunsten verändern würden…
Es kommt diese Beobachtung hinzu, auf welche ich ihn auch oft genug angesprochen habe: sofern er eine derartige Partie mit absolut legalen Mitteln, aber vermutlich aus einer lediglich umkämpften, ausgeglichenen Partie, mit Chancen und guten Phasen für beide Seiten, von Anfang bis Ende, zum Siege geführt hat, hört man ihn oft feixend und über beide Ohren strahlend mit dem Gegner über eine „phantastische Partie“ sprechen, in welcher „der tolle Zug Springer nach b3“ und vom Gegner der Läuferzug mit der Mattdrohung gefunden worden wäre, wonach diese Antwort der „einzige Zug“ war, der Gegner zugleich für sein tolle, aber leider unglückliche Partieführung gelobt wird, so frage ich denn schon mal gelegentlich: „Würde man es je erleben, dass du so herzlich und freundlich, aufmerksam und aufgeräumt, begeistert über die vielen tollen Möglichkeiten und Ideen, fasziniert vom Spiel Schach, nach einer Niederlage dich auf ein derartiges Gespräch einließest? Wie würdest du persönlich reagieren, falls der Gegner, direkt nach dem er dich matt gesetzt hätte, mit diesem strahlenden Grinsen die Kommentierung eröffnen würde: ´tolle Partie, da hast du wirklich stark gespielt. Hast du gesehen, was gekommen wäre, wenn du zuerst auf c6 geschlagen hättest, vor dem Turmtausch? Da hätte ich nämlich… ´?“ Nein, bestimmt ist der nachteilige Ausgang ebenfalls von seiner Reaktion. Ein freundschaftliches Gespräch käme nicht in Frage. Man nimmt die Beschimpfungen klaglos zur Kenntnis oder wehrt sich, worauf die Diskussion heftig zu werden drohte.
Nachdem sein König also quasi auf meinem Schoß gelandet war (nicht etwa, dass mir der Sieg in den selbigen gefallen wäre…), zog er bereits seine Jacke an, somit den Eindruck erweckend, fluchtartig das Lokal verlassen zu wollen. Jedoch besann er sich anscheinend gerade noch rechtzeitig, möglicherweise auch, wie die sich mehrenden Kiebitze, fasziniert von den Geschehnissen am (alternativen) Spitzenbrett. Dort nämlich hatte Andreas Modler gerade ein Endspiel erreicht mit Läufer und Springer (wie gegen mich) gegen Sergejs Läuferpaar (ebenfalls wie gegen mich), mit dem Unterschied, dass er ein Bauernplus aufwies.
Nun war die Verwertung desselben alles andere als einfach, im Gegenteil, die Partie sollte eigentlich unvermeidlich Remis enden. Die Läufer sollten locker der beiden (verbundenen) Bauern Herr werden und auch ein Opfer zur rechten Zeit, einer der beiden Läufer gegen die letzten verbliebenen beiden Bauern jederzeit das Remis aus Sergejs Sicht sicher stellen. Andreas spielte die Partiephase dennoch recht geschickt, so dass eher er den positiven Ausblick hatte.
Nun die dramatische Schlussphase und ich frage mich immer wieder, ob diese Art des Dramas denn tatsächlich zwangsläufig immer wieder in den späten und entscheidenden Momenten aufkommen muss? Eine Art Naturgesetz?
Andreas eroberte also den letzten weißen Bauern. Allerdings bekam Sergej dafür den vorletzten schwarzen. Nun bot Andreas Remis. Sergej lehnte ab. Ich konnte aus meiner Position die Uhr nicht einsehen, aber es musste natürlich schon extrem knapp sein. Nun musste er also noch immer einen der Läufer bekommen, ansonsten wäre es eine (klare) Niederlage bei Zeitüberschreitung. Er stellte sogar seinen Läufer ein, brachte dafür aber den Bauern durch. Sergej verhinderte dies nicht einmal – es müssen also nur noch wenige Sekunden auf der Uhr gewesen sein –, Andreas hatte also nun Dame plus Springer gegen zwei Läufer. Da er selbst merkte, dass die Zeit niemals reichen würde, schlug er mit der Dame einen der beiden Läufer. „Remis“ rief er dazu aus. Sergej aber verwies auf das Fallblättchen und meinte „Zeit“.
Was war nun? Klar: es begann gleich eine hektische Diskussion. So ziemlich jeder Zuschauer hatte seine Meinung und Darstellung. Meine eigene innere Diskussion sah so aus: Remis wäre zwar das einzige gerechtfertigte Ergebnis, auch aufgrund des Partieverlaufs, aber laut Regeln (die ich an anderer Stelle bereits diskutiert habe, hier also nicht darauf eingehen möchte; vor allem nicht auf den Punkt „Sinnhaftigkeit“) sicher Sergej gewonnen hätte, und ich somit vermutlich wie gewohnt den 2. Platz einnehmen würde (nicht so bei Remis, wo ich mit einem halben Punkt Vorsprung 1. wäre). Also: Vize-Paulsen, mal wieder.
Der Vorsitzende und zugleich absolute Regelexperte Christian Kuhn war ebenfalls inzwischen anwesend und wollte rasch die Geschichte klären, auf gewohnt souveräne Art. Er baute rasch noch die Mattbilder auf und meinte „beide Parteien können noch matt setzen, also entscheidet die Zeigerstellung auf der (digitalen, somit zeigerfreien..) Uhr. Auch Reinhard Grüner schloss sich, als Turnierleiter, direkt dem Urteil an. „Da gibt es gar keine Diskussion.“ Andreas trug diese Entscheidung erstaunlich gefasst und meinte, es würde ihm nichts ausmachen, viel wichtiger wäre die Qualität seiner Partien, und mit dieser wäre er zufrieden.
Auf der Heimfahrt, bei heftigem Schneetreiben, war mit Adis ebenfalls längst alles wieder eingerenkt und wir hatten eine Menge Spaß, da sich nämlich Darryl Hentley, der in letzter Zeit nicht nur viel sondern auch zunehmend erfolgreich spielt, sich der kleinen Reisegruppe anschloss. Dennoch bleibe ich „Vize-Paulsen“…
Dirk Paulsen